Der dritte Brief

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Dieser dritte Brief – überreicht auf dem Bahnhof in Hamburg-Altona bei der Rückfahrt vom Urlaub 1987 – ist der wichtigste dieser mehrteiligen Dokumentation. Er offenbart antisemitisches, faschistoides Gedankengut.

In den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen wurden die Kriegsverbrechen der Deutschen dokumentiert. Sie wurden im Adolf-Eichmann Prozess 1962 dokumentiert. Sie sind in unzähligen Erinnerungen, Tagebüchern und einsehbaren Dokumenten manifestiert. Bis heute gibt es jedoch einen schleichenden Relativierungsprozess, der nicht immer die Leugnung dieser Verbrechen, wohl aber ihre Relativierung zum Thema hat.

Was hier in diesem Brief jedoch geschildert wird, ist ein Sammelsurium aus groteskem, infantilen, antisemitischem Schwachsinn:

“Anfang der 20er Jahre hatten wir im Osten die Grenzen zu weit aufgemacht. Die Inflation hatte zuviele Juden angezogen.”

Unglaubliche zwei Sätze, von denen der erste jeder Grundlage entbehrt und der zweite Satz ist armseligstes antisemitisches Klischee.

Dann wird über Bruno Kreisky hergezogen. Er sei “Präsident der UNO” gewesen und hätte sich geweigert bei einem Besuch in Israel das “Käppi” zu tragen. Ich bin sicher, bei all der Akribie, mit der sonst diese Sätze zusammengetragen wurden, dass sich mein Onkel hier niemals mit jüdischer Kultur auseinandergesetzt hat. Die immer wieder erwähnte Weltgewandtheit, die ständig betont wird und Objektivität suggerieren soll, ist armseliges Geschwafel eines Menschen, der sich sein Weltbild zusammenreimt, wie es ihm in den Kram passt. Die UNO hat keinen Präsidenten und das “Käppi” heißt “Kippa” – wenn man schon andere Menschen diffamiert, dann sollte man sich wenigstens mit deren Kultur beschäftigt haben.

Dann geht es weiter …

“Ich bin auch mal von 2 Türken überfallen worden auf dem Nachhauseweg vom Männerabend unseres U-Boot Heims.”

Dann folgt eine Schilderung, wie er den zwei Osmanen in die Nüsse getreten und ihnen die Fresse poliert hat. Werner Killert lief von da an immer mit einer leeren Sektflasche in einer Plastiktüte herum. Das sei die beste Schlagwaffe.

Ich stelle mir einen Neonazi auf dem Nachhauseweg eines faschistischen Männerabends vor – und kann mir eine Menge Situationen plastisch und verbal vorstellen, bei denen dieser mit “Osmanen” aneinandergerät. Und ich bin mir fast sicher, dass die hier suggerierte körperliche Überlegenheit eher Wunsch als Realität war.

Es geht weiter mit Diffamierungen zum Juden “Henry Ford”, zum Zentralrat der Juden usw. usw. – im Weltbild von Werner Killert natürlich alle hinterhältige Verräter. Es kommt noch schlimmer:

“In ganz Europa haben damals 6 Millionen Juden gelebt (…) so allmählich tauchen sie alle wieder aus der Versenkung auf (…)”

Was für eine Verhöhnung der Opfer des Holocausts. Aber man muss hier natürlich bedenken, dass die Relativierung nicht nur Intention, sondern auch Grundlage für alle Argumente gewesen ist. Das ist übrigens eine These, die ich auch in meiner Generation häufig gehört habe. “So viele waren das ja gar nicht …” – es ist nicht nur bei Werner Killert ein vorherrschender Gedanke gewesen, dass Millionen Schicksale für solche Menschen offensichtlich erfunden sein müssen. Wie soll das möglich sein?

Und dann der mit Abstand lächerlichste Satz (und ich habe beim Lesen den Eindruck, dass sich Werner Killert der eigenen Lächerlichkeit bewusst wird):

“Meine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse sind nach dem Krieg und wesentlich in den letzten 20 Jahren an erheblichen Erfahrungen neu fundierter Art gewachsen.”

Was für ein schwachsinniger Satz, oder? Wenn man ihn auf das Wesentliche reduziert, dann bedeutet er nur, dass man in 20 Jahren neue Erfahrungen gesammelt. Lächerlich ist diese Abgrenzung mit “fundiert” und “erheblich” – sie bedeutet, dass man selbst der Meinung ist, dass andere Menschen im eigenen Umfeld offensichtlich nur vor sich hinatmen …

Das ist überhaupt das, was mich zu dieser Dokumentation angetrieben hat. Es ist ein Phänomen, das in den 80er Jahren eher selten war, dieser Tage aber mit Hilfe der sozialen Medien massiv um sich greift: Individuen, die sich für Weltbild passende “Dinge” (ich kann hier nicht “Fakten”, noch nicht mal “Informationen”) herauspicken, sie zu einem illustren Mosaik zusammenstricken und diese Verquickung von bestenfalls Halbwahrheiten und Banalitäten als exklusive Wahrheit verkaufen.

Ich habe vor kurzem mal ein Gedicht geschrieben. Es trägt den Titel “Das Recht auf Dummheit”. Darin diese Strophe:

Es braucht ja eigentlich eine Menge fundiertes Wissen
Um Tatsachen berechtig ins Wanken zu bringen
Gründlichkeit ist dabei kein Wollen, sondern ein Müssen
Nur so kann Überzeugung als Meinung gelingen

Wer den Holocaust anzweifelt oder relativiert muss erklären, wie Millionen Schicksale erfunden worden sein können. Wer glaubt, dass die Corona-Pandemie eine normale Grippe sei, der muss erklären, warum 3.5 Millionen Särge nicht leer sein können. Wer den menschengemachten Klimawandel leugnet, muss erklären, was er mittlerweile täglich vor seiner Haustür sieht – was Menschen in bestimmten Regionen auf dieser Welt sicher mehr und mehr verzweifeln lässt.

Natürlich ist das Hinterfragen von Meinungen in Ordnung. Aber das Bedienen billigster Klischees, das sich Abarbeiten am Andersdenkenden, ihn pauschal der Heuchelei zu ordnen und das permanente Betonen der eigenen Weltgewandtheit und der Exklusivität der eigenen Lebenserfahrung – ich glaube die Leere in vielen Seelen ist heute nicht nur ein Phänomen verblendeter, alter Männer der Nachkriegsgeneration. Sich mit diesem Brief zu beschäftigen, alles mal gegenzuchecken (und es gibt noch viele andere Stellen in diesem Brief, wo das nötig wäre), lehrt uns, die Verblendung als eine solche zu entlarven.

WernerKillert3

In dem folgenden 4. Brief bricht Werner Killert dann den Kontakt zum meinem Vater ab und beschimpft ihn vehement.