1. November 2022

Ich habe schon einige Texte geschrieben, in denen ich mich Franz Kafka gewidmet habe. “Auf der Suche nach Josephine” oder “Das Treffen in Kierling” sind nur zwei Beispiele. Derzeit fasse ich diese Texte unter dem Titel “Kafkaeske Momente” zusammen. Einen weiteren Text mit dem Titel “Herzallerliebst” möchte ich hier vorstellen.

Kurz als Hintergrundinfo, damit dieser Text auch problemlos verständlich ist, wenn man die Biografie von Kafka nicht im Detail kennt: Kafka lernt im Herbst in Gral-Müritz an der Ostsee eine junge Frau namens Dora Diamant kennen (Die Rezension zu den Büchern von Kathi Diamant und Michael Kumpfmüller finden sie hier). Kafka tut etwas, wozu er bei allen anderen Frauen in seinem Leben nicht imstande war. Er zieht mit Dora Diamant nach Berlin und lebt dort mit ihr. Kafka ist jedoch krank. Die Tuberkulose hat auf den Kehlkopf übergegriffen und ihm bleibt nur noch wenig Zeit. Dora kümmert sich aufopferungsvoll um ihn und zieht alle Menschen in ihren Bann, die sie kennenlernt. Diese Geschichte handelt von diesem tragischen Ende.

Herzallerliebst

„Frau Diamant! Frau Diamant“, rief Anna Klein der jungen Frau hinterher, die bereits ein gutes Stück der Landstraße in Kierling Richtung Ortsmitte gegangen war. Sie rief lauter. Viel lauter. Einige wenige Menschen, die zu derselben Zeit unterwegs waren, drehten sich zunächst nach ihr um, dann blickten sie in die Richtung, in die Anna Klein, Krankenschwester in einem Sanatorium hier in Klosterneuburg, einem kleinen Ort in der Nähe von Wien, verzweifelt rief, viel lauter, als man es dieser kleinen Person zugetraut hatte.

Dann hörte die Frau, die vielleicht 150m entfernt war, das Rufen. Sie hatte gerade bei einem Blumenhändler einen Strauß Frühlingsblumen gekauft. Anna Klein winkte – es war ein unmissverständliches Winken. Sie solle zurückkommen.

Drei Tage zuvor hatte Anna Klein diese Frau Diamant, die in demselben Alter war, wie sie, endgültig ins Herz geschlossen. Sie und den Mann, den sie zusammen mit einem weiteren Freund betreute. Es war der Schriftsteller Franz Kafka und Dora Diamant war die junge Frau, mit der Kafka die letzten elf Monate seines Lebens teilte. Zunächst in wilder Ehe in Berlin, mitten in der Hyperinflation und jetzt auf der letzten Station des Lebens in diesem Sanatorium in Kierling.

Anna Klein hatte die beiden schon viele Woche betreut. Aber es war eine einfache Arbeit. Sie brachte Medikamente, die Instrumente, die von den Ärzten benutzt wurden und sie kümmerte sich um die organisatorischen Dinge. Die eigentliche Pflege, das eigentliche Kümmern, das machte alles Dora Diamant selbst. Was den beruflichen Zweck ihres Daseins anging, könnte man also sagen, dass ihre Arbeit eine einfache war. Was sie aber sah, was sie fühlte – das war alles andere als einfach.

Anna Kleins Eltern waren eigentlich dagegen, dass sie als Krankenschwester arbeitete. Es war zwar ein angesehenes, privates Sanatorium hier in Kierling, ihre Bezahlung war für eine Krankenschwester mehr als angemessen, aber dennoch sollte sie Franz Merdinger heiraten, den Sohn eines Stadtrates hier ganz in der Nähe, der nach mehreren Anläufen eine Kaufmannsprüfung geschafft hatte und mit den Beziehungen des Vaters eine Beamtenkarriere einschlagen würde. Sie sollte, wenn es nach dem Willen der Eltern ginge, nach dem Standesdünken in einem österreichischen Dorf und nach aller Logik, die nur so ein geregeltes Auskommen für eine Frau vorsah, das Leben einer einfachen, bescheidenen Frau führen. Eine Lebensplanung, geradlinig zwischen biologischer Bestimmung und Tradition – allein das Hinterfragen dieses Planes schien dumm zu sein.

Sie hatte sich jetzt zwei Jahre lang in diese Arbeit als Krankenschwester retten können. Sie konnte diese Arbeit als Ausrede dafür nutzen, ihrem zukünftigen Mann, Franz, aus dem Weg zu gehen. Er war ein grobschlächtiger Mann, ein dummer Mensch und nur lebensfähig, weil die Familie Einfluss hatte. Er trank schon in jungen Jahren viel, legte nicht allzu viel Wert auf Körperpflege und hatte ein widerwärtiges Lachen. Er hatte nichts an sich, was es für eine Frau erstrebenswert machen könnte, in sich nach etwas zu suchen, was wenn schon keine Liebe, dann wenigstens so etwas wie Respekt oder Sympathie, erwecken zu wollen. Man musste schon alles an seiner Würde verloren haben, um dieses Leben anzustreben.

Dann waren Franz und Dora eingezogen. So nannte sie später, wenn sie von diesen Wochen erzählte, die beiden Menschen, die ihr Leben von Grund auf veränderten. In diesen Wochen um Mai und Juni 1924 waren es Dr. Kafka und Frau Diamant.

Zu Beginn konnte Dr. Kafka noch reden. Manchmal sogar recht klar, später immer weniger und wenn dann nur sehr leise mit heiserer Stimme. Er litt an Tuberkulose, die auf den Kehlkopf übergegriffen hatte – niemand sagte es, aber es war völlig klar, vor allem dem Betroffenen selbst. Die Lebenszeit dieses Mannes, der schon einige Achtungserfolge als Schriftsteller erzielt hatte, war sehr begrenzt.

Seine viel jüngere Lebensgefährtin, Frau Diamant, war voller Lebensenergie. Sie tat alles für Franz. Sie kochte für ihn, machte Besorgungen – sie war ein Mensch, bei dem sich Liebe und Hoffnung nicht trennen ließ. Das geschah erst vor drei Tagen, als Frau Diamant aus dem Zimmer ging und ihre innere Verzweiflung ihren Lauf nahm. Und zufällig kam Anna Klein vorbei – es war die größte Selbstverständlichkeit und fühlte sich so richtig an, sie in den Arm zu nehmen. Ihr Schwesternkleid war ganz nass von den Tränen, die sich angestaut hatten. Den konkreten Anlass für die Verzweiflung hielt sie in der rechten Hand. Es war ein Teller mit einfachem Kartoffel- und Gemüsebrei, den sie für Franz zubereitet hatte.

„Es geht nicht mehr, oder?“, fragte Anna Klein, nahm Dora den Teller ab, stellte ihn auf die Fensterbank im Gang und drückte sie an sich. Damit sie weinen konnte. Schluchzend sagte: „Er versucht es ja, mir zuliebe. Aber er kriegt keinen Bissen mehr runter.“

Kafkas Zustand hatte sich extrem verschlechtert. Die Schmerzen beim Schlucken waren unerträglich. Selbst das Trinken einfacher Flüssigkeiten war eine unglaubliche Qual. Auch die Alkoholinjektionen in den Kehlkopf und die Schmerzmittel begannen mehr und mehr ihre Wirkung zu verlieren. Es ist der unausweichliche Teufelskreis dieser schrecklichen Krankheit im Endstadium – um sich der Krankheit entgegenzustemmen braucht es Kraft, Kraft bekommt der Mensch nur mit der Nahrung, die er zu sich nimmt und genau diese Nahrungsaufnahme wird immer schwieriger. Also schwinden immer mehr die Kräfte. Es waren jetzt nur noch Tage, keine Wochen mehr, bis das Ende nahte. Anna Klein hatte einen Blick dafür – die Gewichtsabnahme und die körperliche Schwächung des Schriftstellers waren nicht zu übersehen.

„Schauen Sie mal …“, sagte Dora und gab Anna Klein einen der vielen Zettel, die Franz Kafka schrieb, da er ja nicht mehr sprechen konnte. Gerade, kurz bevor sie das Zimmer mit dem Teller verließ, hatte sie diesen Zettel bekommen. Nichts hätte das Weinen unterdrücken können.

„Er hat genau gesehen, wieviel Mühe ich mir mit dem Essen gegeben habe und er hat es wirklich versucht. Und er hat gesehen, wie mich das enttäuscht hat. Da geht er an den Tisch und schreibt mir so etwas … “

Auf dem Zettel stand in der Handschrift, die Anna Klein nun schon so oft in dem Zimmer gesehen hatte:

Herzallerliebst

Anna Klein hatte dieses Wort noch nie gehört oder gelesen. Herzallerliebst. Was für ein schönes Wort. Wie schön es aussieht, wenn es geschrieben ist, wie schön es ist, wenn es ausgesprochen wird, wie unendlich schön und gut es ist, wenn es aus der Tiefe des Herzens kommt und nicht mal mehr gesagt werden kann. Nur noch auf einem Zettel steht dieses Wort. Ich sehe, wie Du kämpfst, ich bemühe mich und ich kann Dir doch nur sagen, alles ist Herzallerliebst. Und wie schön es ist in dieser Handschrift.

Dora wischte sich die Tränen ab, nahm den Teller und ging Richtung Küche. Aber sie hielt einen Moment inne, drehte sich zu Anna Klein und strich mit ihrer Hand über ihre Wange. Die beiden waren gleich alt, aber in diesem Moment wirkte Dora um so viel älter, um so viel reifer.

Sie hatte schon kurz nach dem Einzug in das Sanatorium erklärt, dass sie von zu Hause ausgerissen war. Sie hatte ihr strenges, jüdisches Elternhaus so satt. Sie wollte Schauspielerin werden aber es machte ihr nichts aus, alle notwendigen Arbeiten zu machen. Als Erzieherin, als Hauswirtschafterin, als Arbeiterin – ganz egal. Sie wollte einfach nur das tun, was das Herz ihr sagte. So hatte sie vor wenigen Monaten an der Ostsee ihren Franz kennengelernt und sich verliebt.

„Er war schon dreimal verlobt, hat es aber nie gewagt, mit einer Frau zusammenzuleben. Ich bin die Erste. Kaum zu glauben, oder?“

Sie machte eine kleine Pause.

„Ja und er hat meinen Vater um meine Hand gebeten. Aber mein Vater hat ihn abgelehnt. Er kennt ihn gar nicht. Wenn er ihn doch nur kennen würde …“

Vieles für Dora wäre einfacher, wenn die beiden verheiratet wären. Ihr war bereits das Unglaubliche geglückt. Sie hatte es geschafft, dass alle Menschen, denen Franz sie vorgestellt hatte sofort nach einer Begegnung alle Vorurteile abgelegt hatten. Alle hatten sie sofort akzeptiert oder sie sogar – wie im Fall von Kafkas Schwester Ottla – in ihr Herz geschlossen.

Anna Klein hörte sich all diese Geschichten an. Und immer, wenn sie in das Zimmer der beiden kam und die beiden erlebte, dann ging ihr das Herz auf. Wenn sie gemeinsam nebeneinanderliegend dasselbe Buch lasen, händchenhaltend spazieren gingen, diese starke kleine Frau und dieser hagere, sterbende Mann. Oder wenn sie sich gegenseitig wie kleine, naive Kinder aufzogen. Erst jetzt war das angekommen, was diese Liebe zerstörte. Nein, das ist falsch formuliert – völlig falsch. Jetzt war die Krankheit so weit fortgeschritten, dass sie das Leben zerstörte. Aber nicht die Liebe.

Dora Diamant wusste sofort, was los war. Sie drehte sich um und lief den Weg zurück. Anna Klein sagte nur hastig, dass der junge Arzt – so nannte sie Robert Klopstock, der Kafka und Dora zur Seite stand – glaubte, es sei jetzt ganz schlimm. Klopstock hatte, nachdem er dies mit seinem Freund Kafka vereinbart hatte, Dora rausgeschickt. Franz würde jetzt ein starkes Schmerzmittel gespritzt bekommen und dann erstmal Ruhe brauchen. Das ist wohl auch geschehen, aber Kafka rang jetzt leise, aber quälend um jeden Atemzug. So bat Klopstock die Krankenschwester Anna sie solle Dora zurückholen. Wenn es die letzten Momente sind, dann sollte sie dabei sein.

So war es. Dora legte die Blumen auf das Bett, nahm den Oberkörper von Franz Kafka, der kaum noch atmete, in ihre Arme. Es war so, als könnten es alle hören. Man hörte, wie es ruhiger wurde, wie ein Herz der anwesenden Menschen im Raum aufhörte zu schlagen.

Dora legte den toten Körper zurück auf das Bett, legte ihren Kopf auf die Brust von Franz Kafka und weinte lese. Klopstock schloss die weit aufgerissenen Augen Kafkas.

Anna Klein verließ den Raum und hat alle Beteiligten nie wiedergesehen. Alle waren mit der Überführung nach Prag beschäftigt, sie war jetzt nur noch im Weg. Und sie stellte sich die Frage, ob sie überhaupt Trost hätte geben können. Das alles überstieg doch in großem Maße ihr kleines, hageres inneres Gefäß, die Form dessen, was die Seele eines Menschen ausmachte. Sie war klein, unbedeutend und hatte sehr viel Angst. Angst vor dem Schicksal und Angst davor, dass bei aller Liebe in der Welt ihre Kraft nicht ausreichen könnte, einen eigenen Weg finden zu wollen und wenn gefunden, ihn auch zu beschreiten.

In der Schürze ihres Schwesternkleides fand sie den Zettel. Mit diesem Wort. Sie steckte den Zettel in einen Umschlag und diesen in eigene Hülle.  Es war ihr größter Schatz. Als hätte jemand einen gigantischen Wegweiser in ihre weite, kleine, eigene Welt gerammt.

(c) Peter Killert, 2022. Alle Rechte vorbehalten.