Wenn ich auf die Vergangenheit zurückblicke und eine Zeit definieren müsste, die ich als “Mein Erwachsenwerden” charakterisieren würde, dann ist es das ausgehende Jahr 1992. Dafür gibt es einige Gründe.

Gegen Ende des Jahres 1992 und zu Beginn des Jahres 1993 zeichnete sich für mich eine Weichenstellung ab, die mein Leben maßgeblich beeinflusst hat. Das Zeugnis des 1. Halbjahres der Oberstufe, also das Halbjahr, das als Orientierung diente und in dem noch keine Punkte für das Abitur gesammelt wurden, war eine Katastrophe. Mathematik, Physik und Latein, gleich drei Fächer “Mangelhaft” – würde das so weitergehen, dann wäre das Abitur in unerreichbarer Ferne. Diese erbärmlichen Leistungen lagen aber in meiner Faulheit und Trägheit begründet, nicht in meinen Fähigkeiten. Ich mußte also etwas grundlegend ändern.
Im Dezember 1992 habe ich dann angefangen, an Wochenenden als Aushilfe in einen Pflegeheim zu arbeiten. Ich wollte einfach ein bisschen Geld verdienen und mich auf den nach dem Abitur folgenden Zivildienst vorbereiten. In diesem Heim habe ich dann auch später meinen Zivildienst gemacht. Ich weiß noch daß ich direkt am ersten Wochenende meiner Aushilfsarbeit erlebt habe, wie ein Bewohner dort gestorben ist. Dieses abstrakte, weit entfernte Thema des Sterbens war dann plötzlich ein Thema, das mich sehr beschäftigt hat und für einen jungen Menschen greifbar wurde. Aber das allein ist ein Thema für sich und nicht Thema in diesem Artikel. Ich glaube jeder versteht, daß so eine Erfahrung einen Menschen sehr prägen kann.
Es war damals klar, daß ich ab Januar 1993 das Fach Deutsch als Leistungskurs belegen würde. Ich hatte damals als Berufsziel „Journalist“ für mich auserkoren. Tatsächlich habe ich dann später auch 1 1/2 Jahre als Reporter für lokale Käseblättchen gearbeitet. Jedenfalls hatten alle Teilnehmer des Deutsch-Leistungskurs vorab eine Liste mit Büchern erhalten, die in den kommenden 2 1/2 Jahren bis zum Abitur gelesen werden würden. “Effi Briest” von T. Fontane”, “Papa Hamlet” von A. Holtz/J. Schlaf, “Faust I+II’ von Goethe und – “Die Verwandlung” von Franz Kafka Ich hatte mir dann überlegt, dass es sinnvoll sein könnte, mindestens eines dieser Bücher schon mal vorab zu lesen. Zumal ich auch gehört hatte, dass Kafka sehr interessant sei.
Man muß dazu wissen, daß ich damals noch bei meinen Eltern in einer engen Mietwohnung wohnte und der Alltag für mich der Horror gewesen ist. Über Weihnachten 1992 plagten mich dann auch noch furchtbare Zahnschmerzen und ich mußte am 1. Feiertag zum Notdienst. Ich werde nie die Erleichterung vergessen, als die Zahnärztin mit dem Abtöten des Nervs von tagelangen Schmerzen befreit hatte. Ich kam an dem Abend nach diesem Eingriff wieder nach Hause, wieder in mein Zimmer und hörte das Weihnachtsgeschenk, das ich mir selbst gemacht hatte: Das Album “US” von Peter Gabriel. Ein zeitloses Meisterwerk, das ich auch heute noch sehr gerne höre. Dann griff ich in das Bücherregal zu der “Zwangslektüre” für den Deutsch-Leistungskurs und griff zu ” Die Verwandlung”.
Die Zeichnung auf dem Cover stammte von Kafka selbst. Und nach wenigen Stunden in diesem kleinen Zimmer einer Mietwohnung, draußen, kaltes, graues Winterwetter, war sie vorbei: Meine literarische Erweckung. Denn die Erzählung „Die Verwandlung“ kann man in einem Rutsch durchlesen. Es war damals die großartigste Geschichten, die ich bis dahin gelesen hatte. Ich bin dann zwischen den Tagen in die Stadtbibliothek gefahren – damals gab es zum Recherchieren ja noch kein Internet – und lieh einige Bücher zu Kafka aus. Worin bestand nun die “literarische Erweckung”?
Der Titel ist Programm und die kafkaeske Situation des Käfers (oder der Schabe?), in die sich Gregor Samsa verwandelt hatte konnte ich auf meine innere Situation anwenden. Die Erweckung (kann hier beinahe synonym mit „Verwandlung“ verwendet werden) bestand letztendlich nur darin, diesen Zusammenhang überhaupt zu erkennen. Man kann nämlich die gesamte Menschheit in zwei Lager einteilen – diejenigen, die mit Kafka etwas anfangen können und diejenigen, die das nur als weitere langweilige Lektüre auf dem Weg zum Abitur abhaken wollten. Später kam dann noch diese innere Aufopferung Kafkas hinzu, die sich in zahllosen Briefen an die Frauen in seinem Leben richtete – in mir vermengte sich die Erkenntnis, das ich einem ähnlichen Denken unterlegen war und der Erkenntnis, dass dieser Kafka ein Talent hatte, dass ich auch in mir vermutete – wenn auch nicht ansatzweise auf diesem Niveau. Ich mochte auch Musik, ich bewunderte Menschen, die zeichnen konnten – wenn ich ein Talent hatte, wenn überhaupt auch nur etwas in mir war, das man als Talent bezeichnen könnte, dann wirklich nur der Umgang mit Worten. Genau das habe ich zu Zeit dieses Jahreswechsel 1992/93 erkannt.
Diese Erweckung und das bewusste Ändern meiner Lebenssituation – das hat alles verändert.


Untermalt wurde das Ganze wie schon erwähnt durch das Album „US“ von Peter Gabriel. Da kann man sich natürlich auch fragen, wie man sich im Alter von 18 Jahren für so einen Altmeister interessiert. Gabriel war schon lange bei Genesis ausgestiegen, stach aber durch eine besondere Eigenart hervor – seine Videokunst, die damals alles andere auf MTV in den Schatten stellte und die aus heutiger Sicht und heutigen technischen Möglichkeiten fast schon niedlich wirkt. Der Mann hatte es echt drauf. Und er hatte Schönheiten wie Kate Bush oder Sinead O´Connor verführt 🙂 Das bewirkte dann etwas zwischen Neid und Orientierung für die Zeit nach der literarischen Erweckung.